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Fotos der Aufführung im
Staatstheater Kassel
1992 |
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Fußgängerzone
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Musiktheater für 7 Sänger, 6 Schauspieler,
4 Straßenmusiker und kleines Orchester
1990/91
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Chaos und Ordnung
- Von heiligen und profanen Klängen
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In der Fußgängerzone sind alle gleich. Wo sonst
die Unterschiede in Beruf und gesellschaftlichem Stand die
Beziehungen zwischen den Menschen ordnen und bestimmen, verschwimmen
in der Fußgängerzone die Grenzen, an die Stelle
der hierarchischen Vorstellung ("jeder an seinem Platz")
tritt ein chaotisches "demokratisches" Bild: Hier
ist jeder ein König. denn ein jeder ist ein Kunde. Es
ist unerheblich. ob du politisch rechts oder links stehst,
ob du blitzgescheit oder strohdumm bist, ob du Hölderlin
gelesen hast oder nicht - Hauptsache, du kaufst, die weiteren
individuellen Bestimmungen deiner Person sind nicht gefragt.
Das Geld
- das man hat oder eben nicht hat - ist das einzige differenzierende
Regulativ, die Kultur der Fußgängerzone ist eine
Wirtschaftskultur. Und die Abenteuer, die der Erlebnissamstag
verspricht, sind erst dann erfolgreich bestanden, wenn der
König Kunde am Abend mit prallen Einkaufstaschen, erschöpft,
aber glücklich, über die heimische Schwelle wankt
und sich darüber freut, daß er durch die heutigen
Schnäppchen wieder so viel Geld gespart hat. Und der
alte Streit, ob nun das Sein das Bewußtsein bestimme
oder umgekehrt, endet unentschieden, denn hier bestimmt das
Geld das Sein und das Bewußtsein.
So durchdringen sich in der Fußgängerzone chaotische
und ordnende Kräfte auf sehr eigentümliche Weise:
das aufgelöste, scheinbar demokratische äußere
Gewand ist im Innern durchdrungen von den klaren, harten Ordnungen
der wirtschaftlichen Systeme. Wie sich dieses Verhältnis
von Chaos und Ordnung auf der Ebene der Komposition widerspiegelt,
möchte ich an zwei Beispielen darlegen: Die beiden Schlagzeuger
bedienen keine üblichen Schlaginstrumente, sondern Bierflasche,
Coladose, Metallhaken, Plastiktopf, Schuhe, Schlüsselbund
etc.; diese Materialien, normalerweise eher mit dem Mülleimer
als mit dem Reich der Musik in Verbindung gebracht, kommen
auf die verschiedenste Weise in Kontakt mit einer Betonplatte;
so werden chaotische, zum Teil nicht genau vorhersehbare Klänge
erzeugt.. Für das traditionell geschulte, musikalische
Ohr sind diese Klänge nicht verwertbar, es sind Abfallklänge.
Doch genau so, wie die Aufhebung der gesellschaftlichen Hierarchien
in der Fußgängerzone alle Menschen zu Hauptpersonen
macht, können diese Abfallklänge zu vollwertigen
Mitgliedern der musikalischen Familie er-hört werden,
die ordnende Kraft des Hörens schließt zusammen
mit der ordnenden Kraft des Komponierens das Chaos in den
musikalischen Zusammenhang ein und entlockt so dem vermeintlich
wertlosen Abfall ungeahntes Potential für neue Baustoffe.
Umgekehrt ist der Sachverhalt bei
den vier "Straßenmusikern" (in der Besetzung
Mundharmonika, Geige, Gitarre und Akkordeon), Figuren, die
schon immer in der Fußgängerzone leben und praktisch
mit diesem Ort verwachsen sind. Sie sind sozusagen Teil des
Bühnenbildes und verkörpern mit leisen, sphärischen
Tönen den Klang des Raumes selbst. Jeder "Straßenmusiker"
hat nun mehrere Abschnitte zu spielen, die jeweils in sich
klanglich sehr differenziert auskomponiert sind. Hier ist
also im Detail ein sehr hoher Ordnungsgrad vorhanden, und
es erfordert viel Konzentration, die Abschnitte richtig zu
spielen. Die Länge der Pausen zwischen den Abschnitten
und die Reihenfolge der Abschnitte ist aber .ganz freigestellt,
so daß man nie vorher weiß, welches Instrument
nun mit welchem anderen wie zusammenklingen wird. Das im Innern
sehr klar geordnete Material wird also im Zusammenspiel dem
Zufall überantwortet, die reinen, "heiligen"
Klänge werden unvorhersehbar vermischt, und so erhält
auch hier das Chaos - auf entgegengesetzte Weise wie bei den
Schlagzeugern - sein Wirkungsfeld. So bilden sich die beiden
Prinzipien auf vielfältige Weise in der Komposition ab
und definieren auf ihre Weise einen neuen Klangkosmos, "schöne"
und "häßliche" Klänge durchdringen
sich - die Karten werden neu
gemischt.
Reinhard Karger
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Presse |
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Gießener Allgemeine, Mai 1992 |
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Heutzutage besitzt sie jede größere
Stadt; Kassel jedoch hatte sie zuerst: eine Fußgängerzone.
Nicht zuletzt deshalb fand jetzt die Uraufführung einer
Oper mit diesem Titel gerade hier statt. "Fußgängerzone",
ein Auftragswerk für das Staatstheater Kassel anläßlich
der documenta 92, spiegelt die visuellen und akustischen Beobachtungen,
die der Komponist Reinhard Karger und der Texter Bernd Gieseking
"vor Ort" gemacht haben.
Dabei entstand keine herkömmliche Oper mit einer durchgehenden
dramatischen Handlung, sondern ein Musiktheaterstück,
das in Libretto und Komposition die fragmentarische Wahrnehmungsweise
eines Zufallspassanten wiedergibt. Kurzszenen überlagern
sich hier mit realen, ,,abgelauschten" Dialogfetzen und
frei erfundenen Texten. Es ergibt sich so eine vielschichtige
szenische Collage aus Skurrilitäten und Plattitüden,
aber auch dem Leben abgeschauten Realien, die zwar karikieren.
deshalb jedoch aufrütteln und nachdenklich machen. Denn
inmitten der pulsierenden Dynamik der Einkaufszone bleibt
das elementarste Bedürfnis des Menschen, die Kommunikation.
auf der Strecke, Da scheitern nicht nur Randexistenzen wie
der Obdachlose, sondern auch Frau Schmidt, deren Frage nach
der Uhrzeit ein versteckter Hilfe. ruf nach menschlicher Zuwendung
ist.
(...)
Ruhe und Hektik, Ordnung und Chaos - nicht nur szenisch bewegt
sich Reinhard Kargers Oper zwischen diesen Polen. Auf der
Kompositionsebene treten ,,ordentliche", dem Ohr vertraute
Klänge neben musikalische ,,Abfalltöne". Eine
Bierflasche, eine Coladose oder ein Schlüsselbund erzeugen
durch den Kontakt mit einer Betonplatte allerlei ungewöhnliche
Geräusche. die sich mit dem mischen, was ein traditionell
besetztes elfköpfiges Orchester erwarten läßt.
Nach dem gleichen Prinzip. welches das Aufeinandertreffen
unterschiedlicher Personen in der Fußgängerzone
bewirkt, wird hier auch der musikalische Zusammenklang dem
Zufall überantwortet.
Das Ineinandergreifen und Sich-Ergänzen von Musik und
szenischer Darstellung stellt besondere Aufgaben an die Ausfuhrenden.
Zumal es sich hier um eine Oper handelt, m der nicht, wie
sonst üblich, die Sänger den Ton angeben, sondern
ein gleichberechtigtes Miteinander von Sängern und Schauspielern
gefordert wird. Der Komponist Reinhard Karger, der Autor Bernd
Gieseking und die Dramaturgin Verena Joos können diesbezüglich
mit ihrem gemeinsam erarbeiteten Oeuvre zufrieden sein. Die
gleiche Kooperationsbereitschaft wie zwischen den ~Machern..
zeigte sich auch auf der Ebene der Akteure Ein interessante,
in sich stimmige Produktion. der man über diese Uraufführung
hinaus viel Erfolg - nicht nur in Kassel - prophezeien kann.
Angela Maaßen
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