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(nach einem Text von Marieluise
Fleißer)
Die prekäre Gleichzeitigkeit von Lust und Grauen, die
in Edvard Munchs genialer Zeichnung durch das ungleiche
Liebespaar im wahrsten Sinne des Wortes "verkörpert"
wird, tritt in Fleißers Textabschnitt über die
letzten Momente im Leben eines Mädchens vor
dem Selbstmord als Hin- und Hergerissensein zwischen
Todesangst und Todessehnsucht in Erscheinung.
Da dieser Text meiner Komposition für Stimme und Streichquartett
zugrundeliegt, sei er hier zitiert:
"Einstweilen war es draußen schon stille Nacht
geworden. Dies erblichene Gesicht ohne Zusammenhang der
Züge schaute nicht mehr nach dem Regen aus. Dr Wind
drang um das Fensterkreuz, stieß ins Zimmer vor, da
mußte sich gut hineingegeben sein wie in eine kraft.
Der Wind legte sich in ihre Züge ein wie in Wasser,
das er trieb. Da war kein Einzelwille mehr, der in ihr widerstand.
Wie alles, was wächst in der Natur, wuchs sie nur noch
in dies Fallen hinein, ein Fallen im Wind, sie ging dem
Fenster zu wie gezogen."
( aus: "Ein Pfund Orangen" von Marie-Luise Fleißer
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Eine neue, leise Schönheit
Zur Documenta 11: Schubert und Karger in der Kasseler Martinskirche
Von Georg Pepl
Es war ein theatralischer Augenblick
beim siebten Termin der Reihe zur Documenta 11 x 21 Uhr in
der Martinskirche. Kaum hatte das Spohr-Quartett Kassel (Dimitrios
Papanikolau, Rüdiger Spuck, Ute Varevics und Wolfram
Geiss) den ersten Satz von Franz Schuberts d-moll-Quartett
beendet, da schloss, von der Altistin Mechthild Seitz suggestiv
vorgetragen, die Liedfassung von Der Tod und das Mädchen
an. Ohne Unterbrechung durch Beifall, sodass die zahlreichen
Zuhörer sich ganz in die dunkle Stimmung vertiefen konnten.
Der Kasseler Komponist Reinhard Karger hat dieses Konzertprojekt
konzipiert, Schuberts Liedbegleitung für Streicher bearbeitet
und selbst zwei Werke beigesteuert. Bei seinen rund 35 Minuten
dauernden Hölderlin-Fragmenten Tod. Richtkraft für
Frauenstimme, Streichtrio und Tonband (1988) schwebte ihm
eine neue, leise Art von Schönheit vor. Und dies war
vollkommen nachzuvollziehen, da es Klänge von großer
sinnlicher Evidenz zu hören gab.
Zwar herrscht in Kargers Musiksprache das Verhaltene und Reduzierte
vor, doch es kommt auch zu expressiven Ausbrüchen - vielleicht
ein Schubert verwandter Zug. So baut sich hier über tonalen
Motivfetzen und einem punktierten Rhythmus, die beide wie
Zitate erscheinen, Spannung auf. Vom Tonband erklingen aggressive
Demonstrations-Geräusche, eine Kinderstimme verkündet:
Dies ist die Zeit der Könige nicht mehr. Danach stellt
ein längerer Ausschnitt klar, was hier verarbeitet wurde
- Bruchstücke aus Beethovens Großer Fuge.
Dies schafft eine Verbindung zwischen den enttäuschten
Revolutionären Beethoven und Hölderlin, und darüber
hinaus wird aus dem so anfangs so stillen Werk politische
Musik. Sie bezieht ihre Aussage durch eine vom Existenzialismus
inspirierte Hölderlin-Lesart: Das Annehmen der Vergänglichkeit
ermögliche erst produktive und richtungsgebende Entscheidungen.
Eine weitere Facette des Themas, nämlich Todesangst und
Todessehnsucht, eröffnet Marieluise Fleißner in
der Erzählung Drei Pfund Orangen, der literarischen Vorlage
für Kargers Ein Fallen im Wind. In diesem kurzen Stück
für Altstimme und Streichquartett verdeutlichen fallende
Glissandi den Titel , ohne plakativ zu wirken. Unmittelbar
ansprechend sind auch hier die gläsern-zerbrechlichen
Klänge und die originelle Harmonik, die selbst einem
scheinbar abgedroschenen verminderten Nonenakkord neue Ausdruckswerte
zuführt. Eine eindrucksvolle Uraufführung in einem
atmosphärisch dichten Nachtkonzert.
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