Reinhard Karger
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  Ein Fallen im Wind
  Fragment für Stimme und Streichquartett  
2002
 
 

(nach einem Text von Marieluise Fleißer)
 

Die prekäre Gleichzeitigkeit von Lust und Grauen, die in Edvard Munchs genialer Zeichnung durch das ungleiche Liebespaar – im wahrsten Sinne des Wortes – "verkörpert" wird, tritt in Fleißers Textabschnitt über die letzten Momente im Leben eines Mädchens – vor dem Selbstmord – als Hin- und Hergerissensein zwischen Todesangst und Todessehnsucht in Erscheinung.
Da dieser Text meiner Komposition für Stimme und Streichquartett zugrundeliegt, sei er hier zitiert:
"Einstweilen war es draußen schon stille Nacht geworden. Dies erblichene Gesicht ohne Zusammenhang der Züge schaute nicht mehr nach dem Regen aus. Dr Wind drang um das Fensterkreuz, stieß ins Zimmer vor, da mußte sich gut hineingegeben sein wie in eine kraft. Der Wind legte sich in ihre Züge ein wie in Wasser, das er trieb. Da war kein Einzelwille mehr, der in ihr widerstand. Wie alles, was wächst in der Natur, wuchs sie nur noch in dies Fallen hinein, ein Fallen im Wind, sie ging dem Fenster zu wie gezogen."
( aus: "Ein Pfund Orangen" von Marie-Luise Fleißer )


 
     
  PRESSE  
   
Hessische / Niedersächsische Allgemeine, 15. Juli 2002
 
 


Eine neue, leise Schönheit

Zur Documenta 11: Schubert und Karger in der Kasseler Martinskirche

Von Georg Pepl
 
Es war ein theatralischer Augenblick beim siebten Termin der Reihe zur Documenta 11 x 21 Uhr in der Martinskirche. Kaum hatte das Spohr-Quartett Kassel (Dimitrios Papanikolau, Rüdiger Spuck, Ute Varevics und Wolfram Geiss) den ersten Satz von Franz Schuberts d-moll-Quartett beendet, da schloss, von der Altistin Mechthild Seitz suggestiv vorgetragen, die Liedfassung von Der Tod und das Mädchen an. Ohne Unterbrechung durch Beifall, sodass die zahlreichen Zuhörer sich ganz in die dunkle Stimmung vertiefen konnten.

Der Kasseler Komponist Reinhard Karger hat dieses Konzertprojekt konzipiert, Schuberts Liedbegleitung für Streicher bearbeitet und selbst zwei Werke beigesteuert. Bei seinen rund 35 Minuten dauernden Hölderlin-Fragmenten Tod. Richtkraft für Frauenstimme, Streichtrio und Tonband (1988) schwebte ihm eine neue, leise Art von Schönheit vor. Und dies war vollkommen nachzuvollziehen, da es Klänge von großer sinnlicher Evidenz zu hören gab.

Zwar herrscht in Kargers Musiksprache das Verhaltene und Reduzierte vor, doch es kommt auch zu expressiven Ausbrüchen - vielleicht ein Schubert verwandter Zug. So baut sich hier über tonalen Motivfetzen und einem punktierten Rhythmus, die beide wie Zitate erscheinen, Spannung auf. Vom Tonband erklingen aggressive Demonstrations-Geräusche, eine Kinderstimme verkündet: Dies ist die Zeit der Könige nicht mehr. Danach stellt ein längerer Ausschnitt klar, was hier verarbeitet wurde - Bruchstücke aus Beethovens Großer Fuge.

Dies schafft eine Verbindung zwischen den enttäuschten Revolutionären Beethoven und Hölderlin, und darüber hinaus wird aus dem so anfangs so stillen Werk politische Musik. Sie bezieht ihre Aussage durch eine vom Existenzialismus inspirierte Hölderlin-Lesart: Das Annehmen der Vergänglichkeit ermögliche erst produktive und richtungsgebende Entscheidungen.

Eine weitere Facette des Themas, nämlich Todesangst und Todessehnsucht, eröffnet Marieluise Fleißner in der Erzählung Drei Pfund Orangen, der literarischen Vorlage für Kargers Ein Fallen im Wind. In diesem kurzen Stück für Altstimme und Streichquartett verdeutlichen fallende Glissandi den Titel , ohne plakativ zu wirken. Unmittelbar ansprechend sind auch hier die gläsern-zerbrechlichen Klänge und die originelle Harmonik, die selbst einem scheinbar abgedroschenen verminderten Nonenakkord neue Ausdruckswerte zuführt. Eine eindrucksvolle Uraufführung in einem atmosphärisch dichten Nachtkonzert.

 
 


     
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