Reinhard Karger
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  Mein Handy spielt Beethoven
Oder: wie dem Komponisten die Zeit vergeht
 
Antrittsvorlesung von Prof. Reinhard Karger,
gehalten am 10. Mai 2006 in der Universität Kassel
     
 

 
Meine Damen und Herren, ich möchte heute darüber sprechen, wie in der Musik die Zeit vergeht – wie sie zur Zeit Ludwig van Beethovens verging und wie sie heute, in einer Zeit der permanenten Präsenz von Musik aus allen Zeiten und an fast allen Orten, vergeht. Diese thematische Setzung führt direkt ins Zentrum jeder kompositorischen Arbeit, ins Problem der musikalischen Form, in die Frage, der sich die Komponisten aller Zeiten täglich stellen mussten und müssen: wie fange ich an und wie finde ich ein Ende.

Hätten wir vor 200 Jahren gelebt, wären Anfang und Ende von erklingender Musik noch mit unserem Hören synchronisiert gewesen: Musikalisches Erleben wäre nur möglich gewesen, wenn wir im Vorgang des Zuhörens einen kleinen Teil unserer Lebenszeit mit der vom Komponisten gestalteten und von den Interpreten gefüllten Zeit in Beziehung gesetzt hätten, wenn wir uns ihrem Vorschlag, die Zeit verstreichen zu lassen, ausgesetzt hätten. Und zwischen dem letzten Ton und dem Beginn des nächsten Konzerterlebnisses hätte eine lange musik-lose Zeit gelegen. Das ist heute eher der Ausnahmefall, denn durch die Möglichkeiten der technischen Reproduktion – erst das Tonband, dann die Schallplatte, schließlich die digitale Datenspeicherung – können wir ein Stück nochmals hören, vor- und zurückspringen und beliebig an- und ausschalten, die Gestaltung der musikalischen Erlebniszeit kann – wenn wir das wünschen – asynchron zum Vorschlag des Komponisten verlaufen, und wenn mein Handy „Für Elise“ spielt, hat mir der Produzent des Klingeltons die Zerstückelung der musikalischen Erlebniszeit schon abgenommen, indem er den Atem der klassischen Formgestaltung auf ein zeichenhaftes, beliebig oft wiederholbares Soundlogo reduziert. Wie wirken sich diese veränderten Rahmenbedingungen auf unsere Wahrnehmung von musikalisch gestalteter Zeit aus und wie können Komponisten angemessen auf die sich beschleunigenden Zeitraster unserer Alltagswelt reagieren, wenn sie ihrem Anspruch, Zeitgenossen zu sein, gerecht werden wollen? Mit diesen Fragen wollen wir die uns heute zur Verfügung stehende Zeit gemeinsam verbringen.


Kapitel 1: Der erste Avantgardist

Wir hören zu Beginn das Thema des 2. Satzes der Klaviersonate op. 111, der letzten von Beethoven vollendeten Komposition für Klavier.

Ein schlichtes, bescheidenes, in unschuldigem C-Dur daherkommendes Thema, in braven achttaktigen Perioden organisiert und im zweiten Teil in die Parallel-Molltonart modulierend wie es die klassische Konvention nahe legt. Zwei Dinge nur weisen darauf hin, dass es bei dieser abgezirkelten Schlichtheit wohl nicht bleiben wird: die etwas ungewöhnliche Notation im 9/16-Takt und die Tatsache, dass die linke Hand eigentlich eine Oktave zu tief angesiedelt ist – zwischen Ober- und Unterstimmen klafft ein Loch, das nicht aus dem Thema selbst erklärbar ist und sich erst im weiteren Verlauf der Komposition als bewusst gesetzter Rahmen, der durch die folgenden Variationen ausgefüllt wird, zu erkennen gibt.

Die physikalische, kontinuierlich verstreichende Zeit ist hier – wie in aller klassischen Musik – gequantelt, sie wird mit den Mitteln der melodischen Bogenbildung, der Kadenzharmonik und der regelmäßigen Periodik in klar unterschiedene „Objekte“ unterteilt, die wir jeweils als „Jetzt“ empfinden und als fest umrissene Einheiten zueinander in Beziehung setzen können . Es handelt sich also wahrnehmungspsychologisch um eine Transposition von Phänomenen mit zeitlicher Ausdehnung in die Dimension des Raumes – man spricht auch von der „Architektur“ der Musik, und im Vorgang des Musik-Erinnerns schafft es unser Hirn sogar, eine ganze Sinfonie auf einen Augenblick zusammenschrumpfen zu lassen und sie als Objekt im Speicher der Vergangenheit neu zu betrachten: Aus einer halben Stunde musikalischer Dauer ist ein Erinnerungs-Moment ohne zeitliche Ausdehnung geworden.

Doch wie weit ist unser kleines, zärtliches Thema vom gängigen Beethoven-Bild entfernt! Beethoven, der Willensmensch, der große Protagonist des erwachenden bürgerlichen Ichs, der Schmerzensmann, der sich durch Nacht zum Licht erhebt und schließlich trotz aller Widrigkeiten als strahlender Neuerer die Welt beglückt: So haben ihn die Größen des Dritten Reiches gesehen und zur urdeutschen Figur stilisiert, und in dieser Rolle wird er auch von unseren heutigen Großunternehmen vereinnahmt, wenn sein Bild auf den Scheckkarten oder seine Melodien in den Handys platziert werden. Wer etwas genauer hinschaut, merkt sofort, dass dieses einseitige Bild nicht zu halten ist, dass Beethovens lyrische, ja zärtliche Seite die Kraftmeierei bei weitem überwiegt und dass er vor allem auch ein intellektueller Komponist war, dessen analytische Schärfe und strukturelle Genauigkeit ihn zu einem der wichtigsten Vordenker der Musik des 20sten Jahrhunderts, ja im Grunde zum ersten Avantgardisten im modernen Sinne überhaupt machen – und trotzdem prägt dieses Etikett des „titanischen Genies“ bis heute weitgehend die Wahrnehmung dessen, was man sich unter einem Komponisten vorzustellen habe.
Thomas Mann hat diesem Typus in seinem Roman „Doktor Faustus“ ein Denkmal gesetzt und ihn gleichzeitig ins 20ste Jahrhundert fortgeschrieben: sein Protagonist Adrian Leverkühn will und soll eine neue Musik erfinden, aber – Thomas Mann hat immer den Schalk im Nacken – das kann ihm nur mit Hilfe eines Teufelspaktes gelingen. Wohlwollend beobachtet und fördert der Teufel den Verfall des alten tonalen Systems, denn Zerstörung ist sein Geschäft; er verschafft Adrian eine schleichende Hirnhautentzündung, denn nur ein kranker Künstler ist ein großer Künstler und er treibt ihn bis an seine geistigen und physischen Grenzen, auf dass er eine wahrhaft neue und große Musik erschaffe – der Teufel verspricht ihm eine zeitlich begrenzte, aber grandiose und heroische Komponistenkarriere, wenn im Gegenzug seine Seele bei seinem Tode ihm gehöre. Erlauben Sie mir, aus der entscheidenden Begegnung Adrians mit dem Teufel einen kurzen Abschnitt zu zitieren.

"Adrian fragt den Teufel: So wollt Ihr mir Zeit verkaufen?
Und der Teufel antwortet: Zeit? Bloß so Zeit? Nein, mein Guter, das ist keine Teufelsware. Dafür verdienten wir nicht den Preis, dass das Ende uns gehöre. Was für ne Sorte Zeit, darauf kommts an! Große Zeit, tolle Zeit, ganz verteufelte Zeit, in der es hoch und überhoch hergeht, – und auch wieder ein bisschen miserabel natürlich, sogar tief miserabel, das gebe ich nicht nur zu, ich betone es sogar mit Stolz, denn so ist es ja recht und billig, so ists doch Künstlerart und –natur. Die, bekanntlich, neigt allezeit zur Ausgelassenheit nach beiden Seiten, ist ganz normalerweise ein bisschen ausschreitend. Da schlägt immer das Pendel weit hin und her zwischen Aufgeräumtheit und Melancolia, das ist gewöhnlich, ist sozusagen noch bürgerlich-mäßiger, nürrembergischer Art im Vergleich mit dem, was wir liefern. Denn wir liefern das Äußerste in dieser Richtung: Aufschwünge liefern wir und Erleuchtungen, Erfahrungen von Enthobenheit und Entfesselung, von Freiheit, Sicherheit, Leichtigkeit, Macht- und Triumphgefühl, dass unser Mann seinen Sinnen nicht traut, – eingerechnet noch obendrein die kolossale Bewunderung für das Gemachte, die ihn sogar auf jede fremde, äußere leicht könnte verzichten lassen, – die Schauer der Selbstverehrung, ja des köstlichen Grauens vor sich selbst, unter denen er sich wie ein begnadetes Mundstück, wie ein göttliches Untier erscheint."

Mit der ihm eigenen spöttischen Ironie lässt Thomas Mann den Teufel das Bild des Künstlergenies ausmalen, dem eine begrenzte Lebenszeit zugestanden wird, um unsterblich zu werden, die Vorstellung von Größe ist hier also untrennbar an die Vergänglichkeit gekoppelt, und obendrein geht es nicht mit rechten Dingen zu, es ist Teufelswerk.
In „Doktor Faustus“ meinte Mann nicht Beethoven, sondern Arnold Schönberg, denn es geht um Zwölftonmusik, und seine Einsicht in musiktheoretische Details verdankt er Theodor W. Adorno, von dem er sich intensiv beraten ließ, aber diese Fortschreibung und Zuspitzung der Genieproblematik ins 20ste Jahrhundert bezieht sich ohne Zweifel auf das Komponistenbild, das zuallererst durch das Auftreten Beethovens in der Musikgeschichte geprägt wurde.

Hören wir jetzt die erste Variation unseres kleinen Themas von vorhin.

Schon in der 1. Variation bläst der Wind der Veränderung kräftig in das kleine Thema hinein: Harmonische Ausweichungen, vielfache Vorhaltsbildungen und die Aufsplitterung in einen 16tel-Puls – erst jetzt macht der 9/16-Takt so richtig Sinn – strapazieren es bis an die Grenze der Wiedererkennbarkeit, nur das zeitliche Gehäuse – die regelmäßigen 8taktigen Perioden – bleibt erhalten; der kompositorische Gestaltungseros wirbelt sozusagen das ganze Mobiliar durcheinander, aber das Haus bleibt stehen, es wird –vorerst – nicht gesprengt, und die Veränderungen wirken nur deshalb so kühn, weil sie auf die vorgegebene Zeitquantelung bezogen bleiben.

Hier zeigt sich Beethovens Modernität: Der Komponist gibt sich nicht damit zufrieden, bestehende konventionelle Modelle der Zeitgestaltung wie die barocke Tanzsuite oder die Sonatenhauptsatzform mit neuem Inhalt zu füllen, sondern er besteht darauf, die Modelle selbst zum Thema der Arbeit zu machen, sie zu zerstören und neu zu formieren, jeder Komposition eine eigene, unverwechselbare Form in der Zeit zu geben, die es möglich macht, eine individuelle, einzigartige Geschichte zu erzählen, die vorher noch niemand erzählt hat und die auch später nicht mehr erfunden werden kann: die klassische Definition von Zeitgenossenschaft. In jeder kompositorischen Bewegung steckt ein Stück Utopie: So wie die Musik ist, kann sie nicht bleiben, sie muss origineller, interessanter, emotionaler werden, um dem neuen bürgerlichen Menschen, der sich den Idealen der französischen Revolution verpflichtet fühlt, gerecht zu werden. Hier bildet sich der Typus des Komponisten als „Zeit-Erfinder“, er ist der Demiurg, der Schöpfer eines neuen Vorschlags, wie die Zeit vergehen könnte – und er ist dadurch natürlich immer auch ein Missionar, ein ästhetischer Vor-Denker, der darauf angewiesen ist, dass das Publikum seine neuen Ideen hörend nachvollzieht. Bis in unsere Tage ist dieses Bild vom Komponisten als Künder des Zukünftigen, der in seiner einsamen Arbeit den Vorschein einer besseren Gesellschaft oder zumindest die un-erhörten Regionen einer Musik der Zukunft erforscht, wirksam, und noch vor wenigen Jahrzehnten hat Theodor W. Adorno es uns in seiner „Philosophie der neuen Musik“ ja noch einmal deutlich und virtuos vor Augen geführt.


Kapitel 2: Die offene Form

Der Name Adorno deutet es schon an: Wir machen einen Sprung ins 20ste Jahrhundert, in die bundesrepublikanische Nachkriegszeit. Der klassische beethovensche Impuls war im mitteleuropäischen Komponieren vielfach aufgenommen und verwandelt worden, und im deutschsprachigen Raum fühlte man sich vorwiegend der Traditionslinie Schubert – Brahms – Wagner – Schönberg – Webern verpflichtet und versuchte, im Niemandsland nach der Katastrophe des 2. Weltkriegs Orientierung zu finden – entweder durch Wiederaufnahme von Fäden aus der Vorkriegszeit (so z. B. die Weiterentwicklung der Schönbergschen Zwölftonmethode zum System der seriellen Musik), oder durch die Postulierung von ganz neuen ästhetischen Konzepten (wie die durch den Amerikaner John Cage angestoßene Diskussion über die Auflösung des traditionellen Werk-Begriffes und das radikale Postulat, alles, was klinge, könne möglicherweise Musik sein). Die klassische Tradition im Gewand des konservativen bürgerlichen Konzertbetriebs der 50er- und 60er-Jahre wurde vielfach als erstarrte, konventionelle Hülse wahrgenommen, und aus dieser Zeit stammt auch der berühmte Ausspruch von Pierre Boulez, man solle am besten alle Opernhäuser in die Luft sprengen. Wie haben sich die Komponisten – angesichts dieses Szenarios – mit dem Thema Zeit auseinandergesetzt? Es gab viele interessante Ideen, ich möchte mich jedoch auf die exemplarische Darstellung der beiden sehr unterschiedlichen Ansätze von Karlheinz Stockhausen und Morton Feldman beschränken, nicht zuletzt deshalb, weil beide meiner Vätergeneration angehören und meinen eigenen Weg maßgeblich beeinflusst haben. Was den Umgang mit musikalischer Zeit betrifft, so sind beide – der deutsche wie der amerikanische Komponist – auf sehr verschiedenen Wegen und teilweise in direkter Konkurrenz ihrer konträren Positionen schließlich doch zu ähnlichen Ergebnissen gelangt.

Stockhausen hat in den 50er- und 60er-Jahren einige Texte verfasst, die die Entwicklung der seriellen Musik enorm beeinflusst haben – unter anderem den Aufsatz „…wie die Zeit vergeht…“ von 1956, der Pate gestanden hat für die Formulierung des Untertitels meiner heutigen Vorlesung, und den Radio-Text „Momentform“ von 1960, aus dem ich Ihnen zwei Abschnitte zitieren möchte.

Stockhausen formuliert, der neue Begriff einer so genannten „offenen Form“ sei dann erfüllt, "… wenn eine Komposition keine durchlaufende Geschichte erzählt, nicht an einem „roten Faden“ entlang komponiert st, den man von Anfang bis Ende mitverfolgen muss, um das Ganze zu verstehen – wenn also keine dramatische Form mit Exposition, Steigerung, Durchführung, Höhepunkt- und Finalwirkung vorliegt (keine geschlossene Form), sondern wenn jeder Moment ein mit allen anderen verbundenes Zentrum ist, das für sich bestehen kann."

Die klassische Vorstellung, musikalische Zeit zu gestalten, nämlich eine Form in der Zeit kompositorisch zu modellieren, sollte also abgelöst werden von einem Konzept der Gestaltung von Jetzt-Momenten, die in beliebiger Anzahl aneinander gereiht werden konnten, so dass nun nicht der Komponist eine bestimmte, vom Publikum nachzuvollziehende Geschichte erzählen, sondern jeder einzelne Zuhörer sich aus dem Angebot an Klängen seinen je eigenen Hörpfad suchen sollte. Dies ist nebenbei bemerkt eine sehr frühe Formulierung einer Zeitkonzeption, die uns heute in den verschiedensten Realisierungen – als soundscape, environmental art oder chillout zone – wieder entgegentritt.

Noch einmal Stockhausen, aus demselben Text:

"Ich verbinde mit den Worten Beginn und Schluss die Vorstellung von Zäsuren, die eine Dauer als Ausschnitt aus einem Kontinuum heraus begrenzen. Anfang und Ende eignen demnach geschlossenen Entwicklungsformen, die ich auch dramatische Formen nannte; Beginn und Schluss eignen offenen Momentformen. Deshalb kann ich auch von einer un-endlichen Form sprechen, wenngleich man eine Aufführung in der Dauer nach aufführungspraktischen Gesichtspunkten begrenzt. Der Unterschied von Schluss und Ende wird sofort deutlich, wenn man an Feste denkt, bei denen man Schluss macht, obwohl sie gar nicht zu Ende sind (eine Konvention sagt, man solle Schluss machen, wenn es am schönsten sei); und wenn man umgekehrt sich an die Feste erinnert, die längst zu Ende waren, bevor man Schluss gemacht hat. In dem Sinne ist es folgerichtig, dem Begriff des Unendlichen als Entsprechung den des Unanfänglichen zuzuordnen."

Ich denke, es ist deutlich geworden, was Stockhausen vorschwebte: ein im Prinzip unendliches Musikstück, aus dem der emanzipierte Hörer seine Dauer und seine individuellen Höhepunkte selbst heraussucht. Nun entsprang seine Haltung keineswegs einem lockeren laissez-faire, ganz im Gegenteil: Er war ein strenger, selbstbewusster Zuchtmeister der Avantgarde an der Speerspitze der kompositorischen Entwicklung, der sich selbst durchaus als legitimer Nachfolger von Beethoven und Schönberg sah, und dessen ungebrochene Ich-Bezogenheit bis heute eher noch zugenommen hat, denn während sich das Beethovensche Pathos noch damit begnügte, seinen „Kuss der ganzen Welt“ übermitteln zu wollen, versteht sich Stockhausen nun als Weltenschöpfer im kosmischen Maßstab, dessen Arbeit in menschlichen Kategorien nicht mehr zu fassen ist – nein, sowohl die Zerstörung der traditionellen Stilmittel als auch das Weiterspinnen der Fäden aus der Musikgeschichte sind bei ihm gleichermaßen als willensbetonte Kraftakte zu sehen, die das Neue aus einer historischen Berufung heraus schaffen müssen, und insofern steht er trotz aller Erneuerungsbehauptungen deutlich in einer spezifisch deutschen geistesgeschichtlichen Tradition.

Eine polar entgegen gesetzte ästhetische Haltung verkörperte der 1987 verstorbene amerikanische Komponist Morton Feldman: zwar war auch er der Ansicht, man müsse den ganzen Ballast der mitteleuropäischen Tradition mitsamt ihren tragischen Verstrickungen, die schließlich zur Katastrophe des 2. Weltkrieges geführt hätten – Feldman war jüdischer Herkunft – , abschütteln und von Grund auf neu anfangen, seine ästhetische Suchbewegung tendierte jedoch in eine ganz andere Richtung. In seinen Aufzeichnungen ist an einer Stelle in seiner kindlichen Kritzelschrift zu lesen: polyphony sucks, also frei übersetzt „Polyphonie ist Scheiße“. Er wollte nicht – wie Stockhausen – die großen historischen Linien weiterführen, sondern einen ganz neuen, frischen Ansatz wagen und in seinen ästhetischen Fernduellen mit Stockhausen erhob er den – durchaus auch politisch gemeinten – Vorwurf, die europäischen und speziell die deutschen Komponisten würden die Töne durch die Gegend schubsen und in serielle Raster pressen, Töne seien aber wie Lebewesen, mit eigenen Rechten und einer eigenen inneren Zeit ausgestattet, und müssten auch als solche behandelt werden. Feldman war von der Lebensweise der Nomaden fasziniert, und einer seiner stets druckreifen Sprüche lautete: I like nomads, because they just follow the cattle. Sein Kulturpessimismus äußerte sich in der Vorstellung, das Beste was die Menschen tun könnten, wäre, all ihre hehren Projekte aufzugeben und den Tieren zu folgen, die wüssten schon, wie man überleben kann und wo es was zu fressen gibt. Dabei war Feldman alles andere als ein Naturbursche, er war im Gegenteil ein waschechter New Yorker Intellektueller und hätte es wahrscheinlich keine drei Tage bei den Nomaden ausgehalten. Allerdings war er ein begeisterter Sammler von Nomaden-Teppichen, und die Struktur dieser Teppiche hat ihm entscheidende Anregungen für seine kompositorische Arbeit gegeben: Es gibt bei den afrikanischen Nomaden eine Knüpftechnik, die nicht auf die Ränder des Teppichs hin ausgerichtet ist, sondern über sie hinausweist, der „gedachte“ Teppich ist also eigentlich unendlich groß, und der real vorliegende Teppich nur ein relativ beliebiger Ausschnitt aus einem unendlichen Kontinuum. Genau diese formale Konzeption übernimmt Feldman für sein gesamtes Spätwerk: die Stücke sind meist sehr lang, sie fangen irgendwann an und hören irgendwann wieder auf, ohne erkennbare Gestaltung von Anfang und Ende, sie sind immer sehr leise und variieren sehr wenige Grundelemente auf immer neue Weise – es entstehen also eher innerlich reich bewegte Zustände als wie auch immer gestaltete Erzählbögen. Ich selbst verdanke einer Begegnung mit Feldmans zweitem Streichquartett eines meiner eindrücklichsten Konzerterlebnisse überhaupt: Als das Kronos-Quartett das viereinhalbstündige Stück bei den Darmstädter Ferienkursen für neue Musik im Jahre 1984 zur Uraufführung brachte, waren nach einer halben Stunde zwei Drittel der Zuhörer gegangen, das restliche Drittel aber harrte aus bis zum letzten Bogenstrich und war zutiefst berührt von der Zartheit und Melancholie dieser existentiellen, gemeinsam verbrachten Zeitspanne.

Feldman hatte über seinem Schreibtisch zur steten Erinnerung einen Notizzettel hängen, auf dem stand: stop telling stories! Hör auf, Geschichten zu erzählen! – stimmiger und prägnanter lässt sich seine ästhetische Provokation nicht zusammenfassen. Und er bestand darauf, die eigentliche Arbeit des Komponisten sei, einsam zu bleiben, Lebenszeit mit den Klängen zu verbringen und sich nicht ablenken zu lassen, und auf die Frage nach seinem kompositorischen Geheimnis antwortete er: I dont leave the house, thats all.

Zwei diametral entgegen gesetzte Musikerpersönlichkeiten: hier der Typus des wachen deutschen Forschers, der das Material sichtet, ordnet und neu zusammensetzt und der durch das Licht seines Geistes die Zukunft erhellt – und dort der unablässig horchende, spürende Sucher, der mit seinen Klängen lebt wie mit Pflanzen oder mit Haustieren, der nicht agiert, sondern reagiert und dessen Reich die Dämmerung ist, das Zwielicht des Zweifels und des Tastens. Und obwohl der Deutsche und der Amerikaner aus völlig verschiedenen Geisteswelten kommen und ihre Stücke tatsächlich sehr unterschiedlich klingen, sind ihre Zeitkonzeptionen doch erstaunlich ähnlich, so dass sich der Eindruck aufdrängt, hier sei – unabhängig von den konkreten Personen – etwas „Historisch Notwendiges“ passiert.

Und in der Tat hatten diese Vorgänge innerhalb der Welt der Musik auch eine gesellschaftliche Dimension: Im kulturellen Vakuum der Nachkriegszeit entstand allmählich das Bild eines neuen, emanzipierten Menschen, der allem vorformulierten Pathos misstraut und selbstbestimmt – in der Politik wie in der Musik – über seine Zeit und seine Inhalte verfügt, der sich politisch nicht verführen lässt und selbst entscheidet, wann er in einem Konzert erscheint und wann er wieder geht – es war auch ein demokratischer Impuls, und in der Zeit um 1968 haben sich die Protagonisten dieses neuen Menschenbildes ja auch ausführlich an der gesellschaftlichen Wirklichkeit gerieben.

Viele andere Komponisten haben diese Entwicklung mit vorangetrieben und die Impulse auf ihre Weise aufgenommen – erwähnt seien John Cages Hinwendung zum Zen-Buddhismus, der die musikalische Zeit in der Lebenszeit aufhebt, die Anprangerung von Unterdrückung und Folter in den Musiktheaterwerken von Luigi Nono, Helmut Lachenmanns permanente Arbeit im und gegen den verkrusteten bürgerlichen ästhetischen Apparat und die Konzeption einer „Kugelgestalt der Zeit“ des Kölner Komponisten B.A. Zimmermann, der postulierte, dass in einer Zeit der technischen Reproduzierbarkeit von Musik der Komponist quasi im Mittelpunkt einer Kugel stünde, von dem alle Musikstile und alle historischen Schichten gleich weit entfernt seien, sodass heute in einer Komposition Gesualdo, Hochromantik und Jazz sich nicht ausschließen müssten, sondern durchaus als Impulsgeber koexistieren könnten. Flapsiger formulierte es der Komponist Heiner Goebbels, der vor wenigen Jahren sagte: "Die Musikgeschichte ist ein Supermarkt, wir können uns bedienen."

Kehren wir zurück zu Beethoven. Wir überspringen die 2. und 3. Variation, die unserem kleinen Thema weitere Zersplitterung, Beschleunigung und rhythmische Bockssprünge zumuten und wenden uns der 4. Variation zu: Hören Sie, wie sich das Motiv immer mehr von seinen Wurzeln entfernt, wie es sich in einen unbekannten Klangraum vortastet und nach und nach alle Fesseln der Konvention ablegt – fast verzweifelt klammert es sich noch lange an das Gerüst der 8taktigen Periode, bis es schließlich auch dieses verlässt um in einer Wolke von Trillerkaskaden, die eher der Welt von György Ligeti als der von Ludwig van Beethoven anzugehören scheinen, zu verschwinden.

4. Variation des Themas

Der dreifache Triller, den wir soeben gehört haben, ist einzigartig in der klassischen Klavierliteratur, und Beethoven steuert hier – am Ende seines künstlerischen Weges – eine Kategorie an, die eigentlich erst im 20sten Jahrhundert als kompositorisch zu gestaltende ihre Blütezeit erlebte: die Klang- und Klangfarbenkomposition. Sowohl die Forschungen von Debussy, Schostakowitsch und Schönberg als auch die frühen Versuche der elektronischen Musik oder die statischen, in sich bewegten Klanggebilde von Ligeti lassen sich mit dieser frühen Vision von Beethoven zusammendenken, die die Auflösung der klassischen, sprachähnlichen Quantelung der musikalischen Zeit in Bögen, Perioden und Formteile vorwegnimmt und eine „Nullzeit“ postuliert, die erst durch das Ohr, den Erfahrungshintergrund und die Ausdauer des Zuhörers zu einer individuell verstreichenden Zeit ausformuliert wird.


Kapitel 3: Vom Altern der Neuen Musik

Diese Denkfigur, die permanente Verfügbarkeit und individuelle Wahlmöglichkeit postuliert und die Verantwortung für das Verstreichen der Zeit abgeben will, ist nicht nur in der Welt der Musik, sondern parallel in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen aufgetaucht – denken Sie nur an den alten Traum von der „ewigen Jugend“, der durch die Klonphantasien der Biotechniker zu neuer Blüte gelangt ist, an die Idee der vollständigen Entkoppelung von Sexualität und Nachkommenschaft durch die in Amerika bereits real bestehende Möglichkeit, Kinder durch Leihmütter austragen zu lassen und den Zeitpunkt der Geburt und die Eigenschaften des Kindes – durch Wahl eines Samenspenders mit den gewünschten Eigenschaften – frei zu bestimmen, an das Angebot, sich bei lebendigem Leibe einfrieren zu lassen, um in 200 Jahren in einer – hoffentlich besseren – Gesellschaft wieder aufgetaut zu werden, denken Sie an den politischen Traum vom „Ende der Geschichte“, der nach dem Exitus der Sowjetunion und dem Abebben des kalten Krieges eine befriedete Welt erhoffte, in der die Konflikte vernünftig und ausschließlich mit diplomatischen Mitteln gelöst würden – kurz an die Vorstellung eines radikalen Paradigmenwechsels in einer „post-histoire“, die die Menschen nicht mehr in ein gemeinsames Schicksal zwingt und die Verfügungsgewalt über die eigene Lebenszeit auf das Individuum überträgt.

Was ist der Kern dieser Denkfigur, wo steckt ihr Motiv? Psychologisch gesprochen ist den genannten Beispielen gemeinsam eine Angst vor dem Ende des Atems, Angst vor dem Altern, Angst vor dem Tod, ein Aufbegehren gegen die Vergänglichkeit und die Endgültigkeit und Nicht-Korrigierbarkeit unserer Entscheidungen.

Auch in der Welt der Musik gab es dieses Pathos des Aufbruchs in eine „schöne neue Welt“ der unbegrenzten Möglichkeiten – am besten lässt sich das anhand der kurzen Geschichte der elektronischen Musik veranschaulichen: Nach dem zweiten Weltkrieg herrschte in den neu entstehenden elektronischen Studios in Köln, Stockholm, Utrecht und Paris eine euphorische Aufbruchsstimmung: man machte sich auf ins exotische Neuland der elektronisch erzeugten Klänge, im Prinzip schien es nun möglich, jeden beliebigen Klang künstlich zu erzeugen, es sollte eine neue moderne Musik entstehen, die nicht mehr von den traditionellen Klangerzeugern abhängig war und die ihre ganz eigenen Kompositionsmethoden und ihre eigene Ästhetik entwickeln sollte. Heute ist diese elektronische Musik – bis auf wenige Ausnahmen – vollständig aus den Konzertsälen verschwunden, sie hat sich nicht durchgesetzt und ist nur noch von historischem Interesse. Ich habe mir die Frage, woran das wohl liegen mag, selbst oft gestellt, denn ich wurde als junger Student in den 70er-Jahren genauso von dieser Forscher-Euphorie erfasst und beschäftige mich heute, wo die technische Entwicklung der Geräte die Erfüllung fast aller Träume von damals möglich macht, kaum mehr mit diesem Gebiet.

Elektronische Klänge haben von sich aus keine zeitliche Gestalt, keinen Atembogen, sie werden eingeschaltet und klingen so lange, bis sie wieder ausgeschaltet werden. Es scheint so zu sein, dass diese Eliminierung des Verklingens, diese prinzipielle Unendlichkeit den ästhetischen Ansprüchen der meisten Komponisten zuwiderläuft, dass sie sich nicht genug herausgefordert fühlen von dem neuen Medium. Dennoch hat die elektronische Musik enorme Bedeutung erlangt – sie ist in die Popmusik ausgewandert: Ins rauschhafte Reich des Techno, in die Privatkosmen der Laptop-Tüftler und in die akustische Schleimspur der Synthesizer-Klangflächen in den Hitparaden.

Und sie prüft täglich unsere Geduld in ihren vielfältigen Erscheinungsformen im modernen Alltag: Wir kennen alle die piepsigen Wecktöne, die Alarmanlagen und die
ungerufen in unser Ohr dringenden Handy-Klingeltöne, die sich gerne humanistisch gebildet geben, indem sie die Themenköpfe aus den „Highlights“ der klassischen Musik zitieren, aber deren ursprünglichen Sinn – nämlich ihre Entwicklung und Veränderung in der Zeit – ignorieren. Und wenn mein Handy Beethoven spielt, dann transformiert sich die ans Endliche des Atems gebundene Beethovensche Konzeption in die Welt der unendlichen Verfügbarkeit, und wenn ich nicht drangehe, dann wird mein Handy ewig weiterklingeln, abhängig allein von den Ressourcen der Stromversorgung und nicht mehr an ästhetische Kriterien gebunden.

Diese Denkfigur, die die Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit des musikalischen Ereignisses in der Zeit aufheben will zugunsten der permanenten Verfügbarkeit eines bestimmten Klangvorrates, oder – auf der Ebene der Musikkultur insgesamt – eines weißen Rauschens, das sich aus allen jemals erzeugten Klängen zusammensetzt, und aus dem jeder Einzelne sich sein eigenes Musikstück herausfiltert (oder digital gesprochen: downloadet) – dieser durchaus demokratische, aufklärerische Impuls hat eben auch eine dunkle, chaotische Seite, die heute, einige Jahrzehnte nach der Formulierung der Konzeption, immer deutlicher sichtbar wird.

Nicht nur in der elektronischen Szene, sondern auch in der neuen Instrumentalmusik ist die Hilflosigkeit im Umgang mit der Zeit-Kategorie oft unüberhörbar: die ursprünglich kraftvollen, revolutionären Regeln der Pioniere – neben der Auflösung der klassischen Zeitkonzeption das Konsonanzverbot, das Tonwiederholungsverbot, die Erweiterung des Klangbildes in die extremen Lagen, die Zersplitterung der Sprache und der musikalischen Phrase – wurden durch ständige Wiederholung zum Klischee, der Gestus des „Aufbruchs in unerhörte Regionen“ wurde zum neuen Gesetz und hat sich so mit der Zeit selbst ad absurdum geführt, er hat die Rolle eines Etikettes angenommen („aha, neue Musik“), unter dem sich leicht dürftige Substanz und mangelnde Phantasie verbergen lassen. Die Frische der ehemals neuen ästhetischen Setzungen wird nur noch verwaltet und in der Schublade „Avantgarde“ abgelegt, aus der man sich bei Bedarf bedienen kann. Es gibt immer mehr hervorragende Musiker, die neue Kompositionen überzeugend präsentieren können – wie sehr haben wir Komponisten uns vor 20 Jahren eine solche Leistungsdichte gewünscht! –, aber oft bleibt man als Hörer auf den einschlägigen Festivals distanziert und gelangweilt angesichts dieser verwalteten Perfektion, und man sehnt sich nach einer unvollkommenen Schüleraufführung, wo etwas neu aufbricht, wo eine Schwelle überschritten wird und ein gültiger, nicht zu wiederholender Augenblick sich ereignet.

Meine These ist: die Neue Musik ist alt geworden, weil sie nicht gelernt hat, zu altern, weil sie nach 50 Jahren noch immer in den Kinderschuhen steckt und die Konzeptionen aus den frühen heroischen Tagen festhält, weil sie sich aus der Verantwortung für die Zeit gestohlen hat und sich die Freiheit nimmt, provisorisch nur zu spielen in einem im Prinzip unbegrenzten, geschützten Raum, wo nichts wirklich gilt und alles im Prinzip wieder gelöscht und neu angefangen werden kann. Zugegeben: Das ist polemisch und sehr pauschal formuliert und beschreibt natürlich keinesfalls die komplexe Szenerie der neuen Musik als Ganze, aber vielleicht kann eine solche Polemik Anstoß sein, das Bewusstsein und die Sinne zu schärfen für die Fragen, an denen sich die Qualität und die Zeitgenossenschaft einer Komposition heute entscheidet.


Kapitel 4:
Beethovens Zukunft
oder: Kleines Lob der Vergänglichkeit


Wie vergeht den Komponisten heute die Zeit, wie können sie angemessen reagieren auf diese fundamentalen Umwälzungen im musikalischen Produktions- und Wahrnehmungsfeld? Macht es überhaupt noch einen Sinn, Beethovens Streben nach Originalität und Individualität in die Zukunft weiterzutragen oder wird dieses Modell im allgemeinen Rauschen der permanent verfügbaren Clips versinken? Will sich die Gesellschaft den professionellen Komponisten, den Forscher im Reich der Schwingungen und ihrer Wahrnehmung, überhaupt noch leisten, oder liegt die Zukunft eher bei den neuen „Eingeborenen des Internet“, die mit großem Energie- und Zeitaufwand und ohne professionelle Ausbildung ihre tracks und clips produzieren und in großen, weltweiten Tauschbörsen einen ganz anderen ästhetischen Diskurs führen? Erleben wir eine Renaissance der oralen Tradition – nun im digitalen Gewand – und eine hedonistische Parodie der Parole von Joseph Beuys, jeder Mensch sei ein Künstler?

Wir wissen es nicht. – aber wir wundern uns doch, wie schnell wir von Avantgardisten zu konservativen Widerständlern mutiert sind, weil wir nicht auf die überlieferten ästhetischen Kategorien unserer Tradition verzichten wollen.

Eine Strategie, die bewusste Gestaltung der musikalischen Zeit auch im Zeitalter der Reizüberflutung weiterzuverfolgen, ist, den Spieß umzudrehen, nicht „Klang“ in die Stille zu setzen, sondern „Stille“ selbst zum Thema der kompositorischen Arbeit zu machen. Viele heutige Komponisten beschäftigen sich mit den Vorgängen des Verschwindens, des Verstummens, des Aushauchens, um in der Musik Wege in einen Zustand der aktiven Kontemplation, der Sammlung in der Stille zu finden, einen Zustand, der aus unserem Alltag mehr und mehr verschwindet, – viele Kompositionen, z. B. von Cage, Feldman, Kurtag, Scelsi oder Nono geben Zeugnis von diesem Versuch. Aber auch diese Umkehrung ist historisch gebunden und kann nicht festgehalten werden, auch das Suchen nach Stille kann zum Manierismus degenerieren – und so sehen wir uns vor jedem neuen leeren Notenblatt in eine große Unwissenheit hineingeworfen, wir sind permanente Anfänger, die vorsichtig tastend und für jedes Stück neu versuchen müssen, ästhetische Stimmigkeit zu erreichen, was gleichbedeutend ist mit: unsere Gegenwart wahrhaftig zu spiegeln.

Es scheint so zu sein, dass wir heutigen Komponisten die Vorstellung eines „befreiten, selbstbestimmten“ Hörens in einem permanent präsenten „Meer von Klang“ aufgeben müssen, dass wir zum Geschichtenerzählen verdammt sind, dass wir einen Anfang und ein Ende brauchen – dass wir uns also nicht aus der Verantwortung für die von uns zu gestaltende Zeit stehlen können. Um unserem Anspruch an Zeitgenossenschaft gerecht zu werden, um unsere eigenen, aktuellen Geschichten zu erzählen, können wir natürlich nicht einfach auf die überlieferten musiksprachlichen Elemente zurückgreifen, weder auf die von Beethoven, noch auf die von Mahler, Schönberg oder Lachenmann – wir sind verdammt, im Dunkeln zu stochern und für jedes Stück unser Repertoire an Gestaltungsmöglichkeiten neu zu überprüfen. Wie die Zeit eines Werkes vergeht, muss in jedem einzelnen Fall neu erforscht werden, nur das ständige Befragen der schon etablierten Denkfiguren und eine wache Formphantasie können den Geist des jeweiligen historischen Momentes in einem musikalischen Werk einfangen und wirksam werden lassen.

Diese ästhetische Forscherarbeit muss aber durchdrungen sein vom Bewusstsein der Flüchtigkeit unseres Tuns, denn ohne ein Bekenntnis zum Ende, also letztlich zu unserer Sterblichkeit, verflüchtigen sich die Wahrheit und auch – um einen abgegriffenen Begriff zu benutzen – die Schönheit in der Kunst. Und hier schließt sich der Kreis: Wir sind nicht klüger als Beethoven, wir stehen – wenn auch in sehr anderer Landschaft – genauso bang und unsicher vor jeder neuen Aufgabe und sind aufgerufen, dem Chamäleon „Zeit“ immer neu zu begegnen. Und die Radikalität und Konsequenz, mit der Beethoven diesen Weg gegangen ist, kann auch uns Heutigen als Vorbild dienen, auch wenn wir uns sicher vom Bild des titanischen Welterlösers trennen und uns wieder mehr als Handwerker verstehen müssen, die bescheidener und in konkreten kulturellen Zusammenhängen ihre Arbeit tun.


Erlauben Sie mir, mein kleines Lob der Vergänglichkeit noch durch ein literarisches Beispiel anschaulich zu machen – es stammt von einem meiner Lieblingsschriftsteller, der vor nunmehr fast hundert Jahren dieses Loblied virtuos wie kein Anderer gesungen hat: von Marcel Proust, dessen großer Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ mich schon seit vielen Jahren begleitet.

An einer Stelle fährt der Ich-Erzähler mit dem Zug durch eine ländliche französische Gegend, es ist Abend, er schaut versonnen aus dem Fenster. Plötzlich hält der Zug auf offener Strecke am Rande eines Wäldchens an und bleibt über eine halbe Stunde dort stehen. Der Fahrgast langweilt sich, er schaut auf das Wäldchen, kann aber nichts Bemerkenswertes erkennen. Irgendwann hört er von ferne das Geräusch von Eisenhämmern, die auf die Schienen schlagen, offenbar müssen sie repariert werden, damit der Zug weiterfahren kann, was er schließlich auch tut. – Szenenwechsel – Einige Jahrzehnte (und einige tausend Seiten) später befindet sich der Ich-Erzähler auf einer mondänen Party und bekommt gerade eine Tasse Tee serviert. Der Diener ist etwas unachtsam, und so schlägt der Teelöffel einige Male an die Untertasse – und plötzlich schießt in ihm die Erinnerung an jene Szene im Zug hoch: die akustische Ähnlichkeit des Teelöffel-Geräusches mit den aus der Ferne klingenden Eisenhämmern von damals schlägt die Brücke, und das Bild steigt noch einmal – nun aber verwandelt – in ihm empor: die melancholische Abendstimmung, die warme Sonne, das kleine Wäldchen – wie schön und poetisch war dieser Augenblick und wie konnte ich ihn damals verpassen und gelangweilt darauf warten, dass der Zug weiterfuhr! Erst jetzt, wo das ursprüngliche Erlebnis unwiederbringlich in der Vergangenheit versunken ist, wird es kostbar und schön, erst jetzt, wo die Zeit durch das Ineinanderfallen von Gegenwart und sehnsüchtiger Erinnerung für einen Moment aufgehoben ist, erwacht es zu wirklichem Leben.

Dies ist eine Schlüsselszene nicht nur für Prousts Denken über die alltägliche Wahrnehmung, sondern auch für seine Kunsttheorie: das Kunstwerk steht nie für sich allein und wirkt bloß nach außen – es muss immer ein Stück Erinnerung aus der Lebenswirklichkeit des Betrachters oder Zuhörers mitwirken, das früher Erlebte verbindet sich mit dem aktuellen ästhetischen Eindruck, Vergangenheit und Gegenwart werden eins, man befindet sich für einen kurzen Augenblick außerhalb der Zeit – nur so kann uns Kunst ins Leben und ans Herz wachsen und genau das meinen wir in einem tieferen Sinne, wenn wir von einem „zeit-losen“ Kunstwerk sprechen. Ich fühle mich dieser Kunsttheorie sehr nahe, und so schließe ich mich Hanns Eisler, dem Schönberg-Schüler und großen Marxisten unter den Komponisten, an, der vor 70 Jahren seinen Schülern zurief: Lesen Sie Proust!

Zum Schluss müssen wir noch einmal zurück zu Dr. Faustus: Der Teufel gibt Adrian Leverkühn ein deftiges memento mori mit auf den Weg indem er ihm zu verstehen gibt, dass es in ihrem Disput keineswegs nur um die musikalische, sondern ebenso um seine Lebens-Zeit geht, die durch seinen Tod begrenzt sein wird, er sagt zu ihm:

"Es hat Zeit damit, reichliche, unabsehbare Zeit, – Zeit ist das Beste und Eigentliche, das wir geben, und unsere Gabe das Stundglas, – ist ja so fein, die Enge, durch die der rote Sand rinnt, so haardünn sein Gerinnsel, nimmt für das Auge gar nicht ab im oberen Hohlraum, nur ganz zuletzt, da scheints schnell zu gehen und schnell gegangen zu sein, – aber das ist so lange hin, bei der Enge, dass es der Rede und des Darandenkens nicht wert ist. Nur eben dass das Stundglas gestellt ist, der Sand immerhin zu rinnen begonnen hat, darüber wollt ich mich gern mit dir, mein Lieber, verständigen."

Das allerletzte Wort oder vielmehr der allerletzte Klang soll aber noch einmal Beethoven gehören: Hören Sie, wie unser kleines Thema am Schluss des Satzes in einer ihm unbekannten, neuen Trillerwelt versinkt, wieder auftaucht, sich zaghaft
– wie probeweise – fugiert und als großes Fragezeichen stehen bleibt.
 


 
     
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Reinhard Karger
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