Reinhard Karger
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  Die Ekstase der Langsamkeit oder
Die Jungfer der Baronin Putbus
 
Versuch eines Musikers über Marcel Proust
 
     
 


Wie setzt sich ein Musiker mit einem Hauptwerk der europäischen Literatur auseinander? Zu dieser Frage hier einige Überlegungen des Komponisten selbst. Ergänzend dazu eine kurze Einführung in das Werk "la vie c'est ailleurs", in dem Konzert und Lesung ineinander verschränkt sind, ohne daß das traditionelle "Vertonungsprinzip" darauf verwendet wird. Beide Teile, Wort und Ton, zeigen unterschiedliche Zugänge zu Proust auf, die, auch wenn mit derselben Thematik beschäftigt, die Grenzen ihrer Gattung nicht überschreiten, sondern erst in der ihnen äußerlichen Zusammensetzung durch den Zuhörer zu einem gemeinsamen Ganzen werden. Aber auch für sich allein genommen, produziert der musikalische Part seine besondere Eigenspannung. Die Besetzung - Sopranstimme, zwei Altsaxophone, Posaune, Akkordeon, Violine und Kontrabaß - führt Instrumente zusammen, die sich in Struktur und Tonqualität fremd sind und den Komponisten Reinhard Karger vor die schwierige, aber von ihm bevorzugte Aufgabe stellen, eine genaue Balance zwischen ungleichen Klangquellen herzustellen.

Wer sich die (in der deutschen Übersetzung) 4678 Seiten lange Erzählung "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust vornimmt, wird sehr bald an einen Scheideweg geführt: Entweder der Leser verbannt das Werk ziemlich bald (und dann meistens für immer) zurück in den Bücherschrank und - entnervt von riesigen Schachtelsatz-Konstruktionen, frustriert vom Auf-der-Stelle-Treten der Handlung und erschlagen von der Ausführlichkeit der Beschreibungen - wendet sich kurzweiligeren Stoffen zu. Oder er wird ergriffen vom Sog dieser Sprache, diesem geduldigen, spielerischen Umkreisen der Dinge und wird süchtig, kann über Monate oder Jahre gar nicht mehr ohne diesen "Stoff" auskommen.
Die provozierende Langsamkeit der Proustschen Erzählung scheidet die Geister und markiert ein Verfahren, das auch heute wieder, am Ende des 20. Jahrhunderts, Autoren und Komponisten fasziniert: der Verzicht auf die "spannend erzählte Geschichte" und der Verzicht auf klare Verhältnisse in Zeit und Raum, dafür das Hineinhorchen, Verweilen, geduldig bis in die feinsten Verästelungen eines Phänomens Eindringen, vom "Hölzchen" aufs "Stöckchen" Kommen, unvermittelt die Ebenen wechseln - ein Verfahren, das strukturell eher dem Traum zugehörig ist als dem wachen Erzählen.
In der jüngsten Vergangenheit verfolgten Komponisten wie Luigi Nono und Morton Feldman eine ähnliche Strategie:
Feldmans in den 80er Jahren entstandenes 2. Streichquartett dauert vier Stunden und zehn Minuten, ist durchgehend sehr leise zu spielen, und es passiert eigentlich nichts. Lapidare Floskeln werden wiederholt und variiert, immer wieder von langen Pausen durchsetzt - man hat beim Zuhören das Gefühl, daß die Zeit stillsteht. (Eine von Feldmans Parolen: "Stop telling stories!") Auch hier wird sich der Hörer sehr bald entscheiden:
Entweder er verläßt das Konzert, weil nichts "geboten" wird, oder er begibt sich hinein in die Magie dieses geduldigen Auslotens einer musikalischen Situation. Das Gemeinsame bei Proust und Feld man ist nicht, was erzählt wird, sondern der Wahrnehmungszustand, in den der Leser/Zuhörer versetzt wird; es scheint, daß jeweils das Ende einer Epoche (das Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts und unsere jetzige bürgerliche Endzeit) dieses Phänomen hervorbringt.
Der Ich-Erzähler in Prousts Geschichte (der viele Züge des historischen Marcel Proust in sich vereint) ist ein junger, kränkelnder Möchtegern-Schriftsteller, der nie irgend etwas aufs Papier bringt, meistens bei geschlossenen Fensterläden auf seinem Bett liegt (er kann das helle Sonnenlicht nicht ausstehen!) und sich durch seine Erinnerungen treiben läßt: ein Segler ohne Segel, ohne Kompaß und ohne Heimathafen, ein hypochondrischer Selbstbeobachter' der die Reflexe der eigenen Innenwelt auf längst vergangene Ereignisse seziert.
(Das Erstaunliche ist, daß diese " schwache Figur", diese willenlose Mimose sozusagen "unter der Hand" - indem sie ihr Scheitern im aktiven Leben beschreibt eines der größten Werke der Weltliteratur hervorbringt: psychologische Genauigkeit, strukturelle Kühnheit, beißender Spott, der weder die große Welt des
Pariser fin-de-siecle noch sich selbst schont, und eine musikalische Sprache, die ihresgleichen sucht.)
In diesem Erinnerungsfeld sind die herkömmlichen Koordinaten von Zeit und Raum aufgehoben: Der Ich-Erzähler springt zwischen Personen, Ereignissen und Zeitschichten hin und her, die Erzählzeit steht fast still, wie Luftblasen tauchen die Bilder aus der Erinnerung auf und zerplatzen im Erzählen. Um aber all die flüchtigen Gestalten wahrnehmen zu können, die heraufsteigen, bedarf es der willenlosen, passiven Hingabe und gleichzeitig der konzentrierten Aufmerksamkeit, ein Paradoxon ähnlich dem von dem Komponisten John Gage postulierten " interesselosen Interesse"; und Proust zieht seinen Leser mit in den Zustand, der ihm seine erstaunlichen Wahrnehmungen geschenkt hat: die Ekstase der Langsamkeit.



Die virtuelle Geliebte

Kennen Sie Kyoko Date, das Medien-Idol aus Japan, das Mädchen, das massenweise Liebesbriefe bekommt, Eifersuchtsszenen hervorruft und ziemlich viel Geld verdient? Kyoko gibt es gar nicht. Sie existiert nur auf dem Computerschirm, sie ist ein "Homunculus" der modernen Video-Designer und ruft doch die gleichen Reaktionen hervor wie eine Geliebte aus Fleisch und Blut. Die Unmöglichkeit der Vereinigung mit der Geliebten ist hier buchstäblich vorprogrammiert, ist Teil des Spiels. Auch bei Proust gibt es diese unüberschreitbare Grenze zwischen dem Liebenden und dem begehrten Objekt, sie ist jedoch nicht technischer, sondern geistiger Natur: Proust ist ein erotischer Pessimist. In der ganzen langen Geschichte gibt es keine erfüllte Liebe, der Ich-Erzähler vergeht vor Sehnsucht, wenn die Geliebte fern ist, sobald sie da ist, ist es ihm langweilig, und er sehnt sich nach einer Reise nach Venedig oder einem Museumsbesuch. Für ihn entstehen wahre und intensive Gefühle nur für das Bild der Geliebten, das seine Phantasie ausmalt, die wirkliche Begegnung bleibt immer hinter diesem Bild zurück. Die prägnanteste Figur in dieser Hinsicht ist die der Jungfer der Baronin Putbus. Dieses junge Mädchen - vom Jugendfreund als besonders attraktiv und willig empfohlen - wird immer wieder annonciert: Man hat gehört, die Baronin Putbus wolle in wenigen Tagen dasselbe Hotel beziehen, sie wolle in diesem oder jenem Salon erscheinen' oder sie nehme gewöhnlich den Abendzug ... Doch weder die Baronin noch ihre Jungfer tauchen jemals in der Geschichte auf, man erfährt rein gar nichts über sie' sie sind Phantome, sie existieren vielleicht gar nicht - was den Ich-Erzähler nicht davon abhält' bei Bedarf seine gesammelte erotische Energie auf die ferne Jungfer zu projizieren.
So wird auch hier eine merkwürdige Patenschaft sichtbar: Ein erotisches Phänomen, das wohl an Endzeiten von Epochen gekoppelt ist, schlägt die Brücke über ein Jahrhundert und berührt uns tiefer, als wir es aus der Feder eines "verstaubten Salonschriftstellers" je erwartet hätten. Hinzuweisen ist jedoch auch auf einen wichtigen Unterschied zwischen Kyoko Date und der Jungfer der Baronin Putbus: Bei Proust ersteht trotz der Unmöglichkeit der erotischen Erfüllung immerhin ein individuelles Bild der Geliebten, es hat zwar wenig mit der geliebten Person, aber viel mit dem Liebenden selbst zu tun' er leistet die Phantasie-Arbeit; Kyoko dagegen wird als fertiges Bild geliefert, sie ist die standardisierte Geliebte, der kleinste gemeinsame Nenner, die erotische Japanerin "an und für sich".
Das Schlußwort spricht ein Musiker, ein Mann, der von seinem Hintergrund und seinem Wollen her kaum ferner zu Proust hätte stehen können: der Komponist Hanns Eisler, der den Aufbau der DDR mitgestaltete und die DDR-Nationalhymne schrieb, ein kluger, unabhängiger Kopf, der seinen mit Lenin aufgewachsenen Schülern riet:
"Lesen Sie Proust!"

Reinhard Karger
Kassel, im Juli 1997

 
 

  
 

 
     
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